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Chemnitz – Hier ist nichts los … oder?

Iris Haist

 

Seit Juni bin ich nun beruflich in Chemnitz. Und ja, ich fühle mich hier wohl. Immer wieder begegneten mir vor allem Einheimische, die mir sagten: „Chemnitz ist okay, aber es ist nichts los.“ Ich dachte mir: „Na gut, macht nichts, ich bin sowieso nur für einige Monate hier. Wird schon nicht so schlimm sein.“ Tatsächlich erlebe ich die drittgrößte Stadt in Sachsen als lebendig und aufstrebend. Hier eine kleine Liebeserklärung an meine Exilheimat.

 

 

Schon an meinem ersten Wochenende in Chemnitz musste ich mich entscheiden: Es wurde sowohl zu einem Fest im Straßenbahnmuseum, als auch im Kulturforum und früheren Einkaufszentrum Tietz geladen, außerdem hätte man an einer Demo mitgehen oder ein öffentliches Rockkonzert in der Innenstadt besuchen können. Und ich hatte nicht nach Events gesucht! Jeden Abend finden irgendwo Film- oder Theatervorführungen, Ausstellungseröffnungen oder Straßenfeste statt. Nachdem ich ursprünglich aus dem schönen aber nicht sehr großen Örtchen Muggensturm komme, empfand ich dieses Angebot vor allem im kulturellen Bereich nicht gerade als Äquivalent zu „Hier ist nichts los.“

 

Ich entschied mich an besagtem Wochenende für einen Stadtspaziergang und für einen Besuch des Festes im Straßenbahnmuseum. Auf dem Grundstück des ältesten Betriebshofs der Chemnitzer Straßenbahn wurden historische Schilder, Maschinen und noch betriebsfähige Waggons aus verschiedenen Epochen zur Schau gestellt. Ein gelungener Einstieg in eine Stadt, die ihrer Industrie so viel zu verdanken hat.

 

 

Von 1953 bis 1990 hieß die Stadt nicht Chemnitz, wie zuvor und heute wieder, sondern Karl-Marx-Stadt. An diesen Namen erinnert heute vor allem noch eine der vielleicht nicht schönsten, aber zumindest durch seine Monumentalität beeindruckenden Plastiken im öffentlichen Stadtraum: Das Karl-Marx-Monument. Der über sieben Meter hohe und ca. 40 Tonnen schwere Kopf aus Bronze wurde vom sowjetischen Bildhauer Lew Jefimowitsch Kerbel (1917–2003) entworfen und in Leningrad gegossen. Mit der Rückbenennung der Stadt in Chemnitz wurde eine Beseitigung des sozialistischen Symbols diskutiert – zum Glück ist der liebevoll Nischl (Kopf) genannte Koloss unbeschadet aus dieser Umstrukturierung herausgekommen.

 

 

Als Kunsthistorikerin und Kunstfan sind für mich natürlich besonders die vielen unterschiedlichen Museen Grund genug, mich hier wohl und verstanden zu fühlen. Architektonisch eindrucksvoll ist unter anderem das SMAC (Staatliches Museum für Archäologie Chemnitz), das im ehemaligen Kaufhaus Schocken beheimatet ist. Architekt des Gebäudes mit der beeindruckenden gebogenen Fassade mit Fensterbändern war Erich Mendelsohn (1887–1953).

 

Daneben lohnen sich vor allem die Kunstsammlungen am Theaterplatz. Mein derzeitiger Arbeitsort beherbergt Kunst verschiedenster Epochen und zeigt immer wieder neue Sonderausstellungen. Eine Dauerausstellung zu den Gemälden des Expressionisten Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976) gibt einen beeindruckenden Einblick in die Motivwelt des in einem heutigen Stadtteil geborenen Künstlers.

 

Zu den Kunstsammlungen Chemnitz gehören zudem die Villa Esche, heute ein kleines aber lohnenswertes Museum für Kunstgewerbe, das Schlossbergmuseum in den Räumlichkeiten eines ehemaligen Benediktinerklosters und das Museum Gunzenhauser. Über letzteres ließe sich ohne größere Mühe ein eigener Beitrag schreiben. Für mich das absolute Highlight dieses Museums: die in altmeisterlichem Stil gemalten Landschaftsansichten von Otto Dix (1891–1969).

 

 

Wer jetzt aber denkt: „Gähn, die sind ja alle schon eine ganze Weile tot… Wo ist denn da die Aktualität?“, dem sei an dieser Stelle gedankt. Denn es stimmt, auch die jüngsten Bemühungen der Chemnitzer, die Kunst zu fördern und der Bevölkerung zugänglich zu machen, sind ein wichtiger Aspekt für die Attraktivität der Stadt. Immer wieder werden die Werke zeitgenössischer Künstler aus Chemnitz in den Räumen der Kunstsammlungen am Theaterplatz und junge sächsische Künstler im Museum Gunzenhauser präsentiert.

 

Für mich neu und spannend waren aber besonders die Festivals zur Förderung junger Künstler, wie die ibug – Festival für urbane Kunst, wo besonders Street Art zu sehen war und die Begehungen. Letztere fanden heuer zum 14. Mal statt. Grundgedanke ist es, zeitgenössische, von einer Fachjury ausgewählte Kunstwerke in einem mittlerweile für die Öffentlichkeit geschlossenen Gebäude bzw. Gebäudekomplex auszustellen und sie so in einen Dialog mit den zerfallenen Architekturen treten zu lassen. Alt und jung, neu und gebraucht, Vergangenheit und Gegenwart verbinden sich zu einem Erlebnis der ganz besonderen Art.

 

 

 

Besonders vorbildlich gehen die Begehungen zudem mit dem Thema Barrierefreiheit um. Die Veranstalter werden auf der Homepage folgendermaßen zitiert: „Unser Festival können alle Menschen erleben. Das muss man nur ermöglichen, mitdenken, wollen – natürlich zusammen mit allen. Teilhabe und Begehungen widersprechen sich nicht. Aber es ist für uns eine große Aufgabe das Festival barrierefrei zu gestalten. Denn die Idee von Begehungen ist es, schwer zugängliche Räume zu öffnen.“ Chemnitz präsentiert sich in diesen Kontexten als offene, soziale und äußerst lebenswerte Stadt.

 

 

So könnte ich noch weiter schwärmen über eine Stadt, die so viele verschiedene Gesichter hat, zwischen den Jugendstilhäusern auf dem Kaßberg und den herrlich alternativen Ecken auf dem Sonnenberg. Doch es hilft alles nichts: Ihr müsst euch selbst überzeugen. Flixbus hält übrigens direkt im Herzen der Stadt. Kommen und sehen ist die Devise.

 

 

Impressionen

 

 

alle Fotos in diesem Beitrag ©Iris Haist und Christian Schmid

 

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