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FORGET von Stella Hamberg

Iris Haist

 

„Ich bin nur Werkzeug. Wäre ja schrecklich, wenn ich die ganze Welt mit meiner Befindlichkeit nerven würde. Es geht ums Weglassen – wie in der Poesie. Das Geheimnis, das Rätsel. Wenn ich es vollständig erklären kann, langweilt es mich.“

Stella Hamberg

 

Stella Hamberg, FORGET, 2005, Wandrelief, Polyurethan eingefärbt, Gips, 145 × 200 × 20 cm,

Kunstsammlungen Chemnitz, Foto: Iris Haist

 

Berserker & Co

 

Vor ihrem Studium absolvierte Stella Hamberg (*1975 Friedberg) eine Ausbildung zur Steinmetzin und arbeitete anschließend vier Jahre in diesem männerdominierten und kräftezehrenden Beruf. Daraufhin distanzierte sie sich von der Auftragsarbeit und erfand ihre eigene Motivwelt. Aus dem Zusammenspiel von handwerklich exakter Arbeitsweise und kreativ-phantasievollen Motiv- und Formideen entsteht eine neue Kunst mit Wiedererkennungswert. Selbstbewusst äußert sich die Bildhauerin zum gelegentlichen Vorwurf, es sei in Bronze schon alles geschaffen worden: „Die Möglichkeiten der figurativen Formensprache sind noch lange nicht ausgereizt.“ Silke Müller sieht in ihr zudem „eine Könnerin, die ihre überbordende Energie ins Material hineinwirtschaftet und die Ich-Anteile dann mit dem Skalpell wieder herausoperiert“ und betitelt ihren Artikel über die Künstlerin mit dem überbordenden Lob „Deutschlands spannendste Künstlerin“.

 

Bekannt wurde Hamberg durch ihre Berserker: über zwei Meter hohe Männerskulpturen aus Bronze mit wulstigen Gesichtern, riesigen Händen und einem kraftvollen Körperbau. Ein bisschen erinnern sie an Figuren aus Computerspielen mit Fantasiecharakter – und das ist auch nicht ganz falsch, denn Hamberg erschafft eine ganz neue Welt mit ihren eigenen, kräftigen und nicht aufzuhaltenden Protagonisten. Erstmals wurden sie 2008 in der Ausstellung "liebe Hölle" in der Galerie EIGEN + ART präsentiert. Doch auf diesem Erfolg ruht sich Hamberg seither nicht aus, nein, die Künstlerin sucht vor jeder Aufgabe erneut die richtige Form und das best Material, das ihre Ideen transportieren kann.

 

Stella Hamberg, FORGET, 2005, Detail, Wandrelief, Polyurethan eingefärbt, Gips, 145 × 200 × 20 cm,

Kunstsammlungen Chemnitz, Foto: Iris Haist

 

Materialschlachten

 

Die Bildhauerin lässt viele Ihrer Skulpturen in Bronze gießen, doch zuvor formt sie das Modell aus Tonmasse oder aus anderen ihr zur Verfügung stehenden Materialien. Sie zupft, knetet und ritzt, um dann alles wieder zu glätten und erneut um die richtige Form zu ringen: „Immer wieder suche ich gerade das Unberechenbare. Binde Materialzufälligkeiten ein, lasse den spontanen Duktus zu, kläre und verunkläre immer wieder, bis das Bild seinen Mythos findet.“ Es ist phasenweise eine regelrechte Materialschlacht, während der schon mal etwas zu Bruch gehen kann. Sie muss ausgefochten und gewonnen werden. Erst dann kann ein zufriedenstellendes Ergebnis erzielt werden.

 

Immer wieder entstehen aber auch Plastiken aus anderen Materialien, wie zum Beispiel bei der Arbeit "FORGET" von 2005, die sich im Besitz der Kunstsammlungen Chemnitz befindet. Dass es sich um ein anerkanntes, fertiges Kunstwerk und nicht um einen Zwischenzustand des Arbeitsprozesses handelt, ist an der großen und selbstbewusst angebrachten Signatur auf der für den Betrachter leider nicht einsehbaren Rückseite abzulesen. Eine Besonderheit an diesem Relief ist seine Abstraktion, da sich die Bildhauerin sonst stets zur figürlichen Formensprache in der Nachfolge der großen Bronzebildhauer der Kunstgeschichte bekennt.

 

Die Arbeitsspuren sind im Relief besonders deutlich zu erkennen. Aus Polyurethan formte sie einen annähernd ovalen Bildträger. Dieser ist grün patiniert und an den ungleichmäßig verlaufen Rändern radial strukturiert. Die Streifen sind offensichtlich von einem ersten, möglicherweise gegenständlichen Entwurf. Jenen muss sie verworfen haben, um dann intuitiv und vielleicht ohne konkreten neuen Plan weiterzuarbeiten. An dieser Stelle macht sich die Künstlerin frei von überkommenen Konzepten und Überlegungen, vergisst quasi den ursprünglichen Plan, um Neues zu erschaffen.

 

Stella Hamberg, FORGET, 2005, Seitenansicht, Wandrelief, Polyurethan eingefärbt, Gips, 145 × 200 × 20 cm, Kunstsammlungen Chemnitz, Foto: Iris Haist

 

Die Werkmasse, die die Welt bedeutet

 

Die grüne Polyurethan-Masse wurde daraufhin regelrecht mit weißem Gips beworfen, was die Form der weißen Stellen und die Spritzer anzeigen. Moritz Woelk schreibt zu dieser Praktik: „Der persönliche Akt des Schaffens soll an ihren Skulpturen ablesbar bleiben.“ Dieser findet seinen Ausdruck in den „teils gestisch aufgewühlten und aus Tonbatzen zusammengeklatschten, teils in minutiöser Feinheit modellierten Körper und Oberflächen“. Die weiße Gipsmasse tritt aus dem Relief stark hervor und drängt die dunkleren Stellen zurück. Die Künstlerin entfernte zum Ende des Arbeitsprozesses den aufgeworfenen Gips in der Mitte wieder, offensichtlich mit einem Werkzeug mit flacher Kante. Dadurch entstand eine glatte Oberfläche in Form eines schräg verlaufenden Streifens inmitten der weißen Erhöhungen.

 

Der Betrachter schaut frontal auf die Oberfläche des an die Wand montierten Reliefs. Aus dieser Perspektive erinnert die Oberflächenstruktur an eine Reliefkarte. Die grünen Stellen stünden für tiefer liegende Landabschnitte und die weißen Erhöhungen für schneebedeckte Gebirgszüge. Archäologisch bewanderte Betrachter sehen möglicherweise auf den ersten Blick auch eine Nähe zur Himmelsscheibe von Nebra. Jedenfalls ist die Deutungsebene immer höher, größer und bedeutsamer, gegenüber der der einzelne Mensch winzig erscheint. Eine mögliche Aussage des Kunstwerks ist dementsprechend: Vergesst eure Sorgen, eure persönlichen Tragödien und eure Befindlichkeiten, denn gegenüber der Natur oder dem Universum sind unsere menschlichen Probleme wie unsere ganze Existenz klein und unerheblich.

 

Stella Hamberg, FORGET, 2005, Detail, Wandrelief, Polyurethan eingefärbt, Gips, 145 × 200 × 20 cm,

Kunstsammlungen Chemnitz, Foto: Iris Haist

 

 

Literatur:

  • Ingrid Mössinger und Iris Haist (Hrsg.): Von Pablo Picasso bis Robert Rauschenberg, Schenkung Céline, Heiner und Aeneas Bastian, Hommage à Ingrid Mössinger, Ausst.-Kat. Kunstsammlungen Chemnitz, Dresden 2017.
  • Ruhrberg, Bettina: Vorwort, in: Stella Hamberg – Skulptur, Ausst.-Kat. Mönchehaus Museum Goslar, Ostfildern 2011.
  • Woelk, Moritz: Stella Hamberg – creature. Zur Eröffnung der Ausstellung im Mönchehaus Museum Goslar, in: Stella Hamberg – Skulptur, Ausst.-Kat. Mönchehaus Museum Goslar, Ostfildern 2011.
  • Müller, Silke: Deutschlands spannendste Künstlerin, in: Stern online, veröffentlicht am 1.8.2009.

 

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