· 

„Nothing until now!!“ Oder: Was Musik alles sein kann!

Pia Littmann

 

Mit zwei Ausrufungszeichnen gibt Stock 11, ein in Berlin ansässiger Verein aus elf Komponisten, Musikern und Musikwissenschaftlern (www.stock11.de), noch bis zum 10. Februar 2018 ein Stelldichein in der Alten Polizeiwache in Stuttgart. Einem Haus an der Willy-Brand-Straße 12, das direkt vor Stuttgart 21 steht, nein, eigentlich sogar mittendrin. Man munkelt, dass einige Mühe vonnöten war, das Haus, das heuer als Alte Villa, LOTTE-Nachfolgerin oder Kulturhaus firmiert, temporär für die kulturelle Nutzung zu gewinnen und sicher darf man auch gespannt sein, wie es hier in Zukunft weitergeht.

Nota bene: Das neue Kunsthaus betritt man nicht von vorne, wo weitläufig alles abgesperrt ist, sondern konspirativ durch die Hintertür (man muss also einmal herumgehen). Es war ein freudiges Wiedersehen, hinter der Tür auf Erik Sturms Bohrschnecken zu treffen, die wir 2016 in unserer Ausstellung „Zeit-Stadt-Wert“ gezeigt haben. Ansonsten war alles neu (oder eher: alt und neu entdeckt). Mit der großzügigen Treppe und den hohen Decken erinnert das Haus schon an eine Villa. Der unverkennbare Zahn der Zeit nebst alter Kabelagen und dergleichen mehr verleihen ihm zugleich offspace-Charakter. Interessante Rahmenbedingungen also, zumal für ein Ausstellungsprojekt, das „befragt, kritisiert und durchbricht, was Musik sein kann.“

 

Das Treppenhaus der Alten Polizeiwache

 

Da wir auf die Schnelle nicht wussten, wo am besten zu beginnen war, verdrückten wir uns zunächst in die Bibliothek, einquartiert im Herzen der ersten Ausstellungsetage. Für eher Greifbares gewohnte Menschen war dies ein hilfreicher Einstieg. Auch weil uns gleich ein Heft mit dem schönen Aufsatz „Video killed the string quartet“ (von Malte Giesen) in die Hände fiel, in dem es um die „Musikalisierung von Bildmaterial“ ging oder „den Bezug der Musik zum bewegten Bild“. Ja, das waren anregende Fragen, zu denen sich bestens eine Flasche kalte Cola trinken ließ – was durchaus unkonventionell, aber angenehm und in „Nothing until now!!“ möglich war.

 

links: Iris trinkt Cola; Mitte: Die "Bibliothek" der Ausstellung; rechts: Pia macht sich Notizen

 

Gestärkt zogen wir los und landeten bald vor Turf Boons Video „The Softest Music in the World“. Dort trommelte jemand mit Wattestäbchen auf zwei Marshmallows ein. Oder es spielte ein Plüschbär, attestiert von einer menschlichen Hand, auf einer kleinen grünen Plastikklarinette. Welche Töne oder Geräusche sich bei dem schmelzenden Osterhasen überhaupt nur denken ließen, dazu reichte meine musikalische Phantasie nicht aus. Aber das muss a) nichts heißen und war b) trotzdem eine interessante Erfahrung.

 

Videostill aus Turf Boons, "The Softest Music in the World"

 

Alsbald standen wir vor Uwe Raschs „Versprecher“. Als weithin sichtbare Projektionsfigur und plakativer Verstärker hielt eine absurd in einen Wolkendress gekleidete Schaufensterpuppe her, die vorne und hinten eine Sonnenbrille trug (also janusköpfig, mit zwei Gesichtern ausgestattet war). Aber in dieser Ausstellung macht ja der Ton die Musik, also hingehört: Aus dem Lautsprecher drangen Klänge häuslichen Alltags, Staubsauger, Tellerklappern, so etwas, und wie sich später herausstellte, zu einer "Klangtapete" aus einer CD gegen Einsamkeit gehörig. Dazu erklangen verschiedene Satzfragmente, u.a. vorgetragen von Anthony Hopkins Synchronsprecher, der bekanntlich eine erschreckend-schöne Stimme hat. Er sagte Dinge wie: „Sie hatten versucht, Vertrauen aufzubauen“, „Lass es sein“ oder „Tu’s nicht“, die sich mit hektischen, hochfrequenten Tönen ablösten, die in älteren Filmen gebracht werden, wenn auf dem Raumschiff die Technik aus dem Takt gerät oder irgendein toxisches Weltraumgebräu am Überkochen ist. Doch Klänge sollte man hier nicht nur sehen, rekonstruieren oder auf ihre Integrität hin prüfen. Sondern auch durch-und-durch spüren. Dafür gab es einen schwarz ausgepolsterten Raum und die eingespielten Tonsequenzen waren ganz weich und trotzdem wunderbar voll und laut eine angenehm kribbelnde Gehirnmassage.

Es gab so viele weitere Positionen zu entdecken – insgesamt 15 Räume mit Objekten, Videos und Installationen, die uns ein ums andere Mal überraschten: Etwa mit den "Amproprifications" von Maximilian Marcoll, die der Verstärkung bereits bestehender Stücke dienen, selbst völlig klanglos sind und wie eine wilde Mischung aus Fabrikenschornsteinen und Haarkämmen aussehen.

 

Maximilian Marcoll, "Amproprifications, #3: Après un rêve, Gabriel Fauré”

 

Am Ende betraten wir einen seltsamen Raum im Obergeschoss. Ein großes, eher spärlich eingerichtetes Zimmer, das mit den drei penibel nebeneinander gerückten Stühlen nebst einiger Illustrierter und der biederen Zimmerpflanze an ein Wartezimmer erinnerte. An der Decke rauschte ein betriebsamer Ventilator, an dem ein kleines Mikrofon hing. Plötzlich knackte es, das Licht ging aus und an den Fenstern, unter denen der Feierabendverkehr toste, fing es wie wild zu blinken an. Dass nun just zwei Polizeiwagen heulend vorbeirasten, spielte dem Schreck-Effekt in die Hände. Aber ich will nicht auch nicht zu viel verraten, (leider) nur noch bis zum 10. Februar könnt Ihr es am besten selbst erleben ...

 

 

Impressionen der Installation "six rooms" von Martin Schüttler

 

alle Fotos: © Pia Litmann und Iris Haist mit freundlicher Genehmigung der teilnehmenden Künstler

 

Zu Führungen und weiterem mehr könnt Ihr Euch auch hier informieren: https://www.facebook.com/stock11/

Kommentar schreiben

Kommentare: 0