Pia Littmann
Auf dem Weg zur Hörn bummelten wir durch Kiel-Gaarden, liefen mit Absicht etwas kreuz und quer und kamen auch am ONspace vorbei. Die Künstlergalerie war vorher in einer alten Schleckerfiliale am Vinetaplatz untergebracht, über der bald „AR SCHLECKER“ prangte. Es ist kein ganz einfaches Pflaster, das öfters auch als sozialer Brennpunkt erwähnt wird. Die Galerie ist trotzdem gut zurechtgekommen, inzwischen aber in die Medusastraße eingezogen, Ecke Iltisstraße. Dort ist der ONspace mit einem breiten Vordach und einer großzügigen Fensterfront ausgestattet, die zum Stehenbleiben und Schauen einladen. Dabei ist es an diesem Apriltag auch geblieben, denn die Ausstellung „Atlas – Lisa Hoffmann“ war noch nicht eröffnet.
Blick durch das Schaufenster der Galerie ONspace, Ausstellung „Atlas – Lisa Hoffmann“ im Aufbau, Foto: pl
Durch die Schaufenster erblickten wir im Halbdunkel einige große, schwarz gerahmte Bilder. Eine Arbeit war wie ein Zelt im Raum platziert. Die Motive waren immer ähnlich, soweit man es erkennen konnte: Dichte Geflechte organisch anmutender Strukturen in warmen Erdtönen, die sich wie ein Schleier über rote, gelbe und grüne Farbakzente legten. Abstrakte Malerei – oder doch nicht? Oben entspannte sich ein Blaugrau, das aussah wie ein zartes Firmament. Auch wurden teils weitere Konturen sichtbar. Genaueres war vorerst jedoch nicht auszumachen, ich musste unbedingt wiederkommen.
Der seltsam verschleierte erste Eindruck bestätigte sich dann: Es lag nicht nur am unklaren Blick durch die Fensterscheibe, es sind die Bilder selbst, die so aussehen. Und es sind auch keine Gemälde, wie man zunächst vermuten könnte, sondern Fotografien. Dabei zeigt Lisa Hoffmann in ihrer fortlaufenden Arbeit „Atlas“ keine üblichen Aufnahmen, sondern vielmehr „Multiperspektiven“, die sie selbst versuchsweise „Essenzen“ nennt: Jedes einzelne der Bilder, die gerade im ONspace zu sehen sind, besteht aus hunderten übereinander geblendeter Fotografien. Werktitel wie „Essence of African Droughts“ [„Essenz der Afrikanischen Dürren“], „Essence of Libya“ oder „Lockdown Week VI“ verweisen auf das düstere Themenspektrum, mit dem sich die Künstlerin befasst: Naturkatastrophen, Kriege, Krisen – sowie der Wahrnehmung und dem Aussagewert von Bildern, die diese dokumentieren. Hoffman, kurz gesagt, befasst sich mit Bildern über Bilder des Schreckens.
„Atlas–Lisa Hoffmann“, Installationsansicht, Foto: Lisa Hoffmann
Das machen die Arbeiten deutlich, die im vorderen Teil der Galerie, wenn auch etwas abseits hängen: Großgezoomte, stark verpixelte Schwarzweiß-Fotografien schreiender Kinder. Man erkennt die Gesichter sofort wieder, vor allem das Mädchen, und mit ihnen die Aufnahme, aus der sie entnommen wurden: Nach einem Luftangriff mit Napalm auf Trang Bang bei Saigon fliehen die Kinder entsetzt aus dem Dorf, unter ihnen Phan Thị Kim Phúc, nackt, verbrannt, in Todesangst. Es ist der 8. Juni 1972, in Vietnam herrscht noch immer Krieg. Es ist eines dieser Bilder mit enormer emotionaler (und politischer) Wucht, die sich tief ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben. Und eines, das freilich einen Entstehungskontext hat – und Alternativen überdies. Letztere zeigt Hoffmann anhand weitaus weniger bekannter Fotografien derselben Kinder, die Sekunden später entstanden sind. Dazu werden Großaufnahmen amerikanischer Kriegsreporter präsentiert, die das Geschehen just fotografieren. Sie fanden keinen Eingang in die Aufnahme, die dann als „Napalm Girl“ um die Welt ging. Das „ikonische“ Bild, die einzelne Blickperspektive hat nichts von seiner Wirkmacht verloren. Man denke nur an den Fotografie des toten Kindes am Strand von Bodrum aus dem Jahr 2015.
Hier beschreitet Hoffmann nun gerade den umgekehrten Weg: Sie sucht nicht die eine Aufnahme, sondern gräbt sich tief in die viel beschworene „Bilderflut“ unserer zunehmend digitalisierten und sozial vernetzen Welt hinein. Wenn man alle die Presse- und Reportagefotos, die privaten Aufnahmen und Handyfotos bündeln könnte, all die unterschiedlichen Sichtweisen auf einen Konflikt oder eine Krise also in einem Bild zusammenfasste? Wie würde das aussehen? Wie würde das wirken? Und entstünde etwas Neues daraus?
Essence of Agbogbloshie 2020, 110 x 165 cm, Pigmentdruck
Aus ATLAS OF THE ESSENCE, Part III Environmental Issues, Foto: Lisa Hofmann
Hoffmans Interesse an der Entwicklung einer alternativen bildnerischen Dokumentation krisenhafter Ereignisse hat einen sehr persönlichen Hintergrund.
Auf ihrer Webseite findet man unter anderem den Kurzfilm „On Scene“ aus dem Jahr 2018, in dem sie bereits mit der Überlagerung von Bildern gearbeitet hat. Damals war es der Versuch, die eigenen Erfahrungen als Aktivistin und Fotografin bei der Seenotrettungsorganisation „Sea Watch“ zu verarbeiten, besonders diesen einen Tag im November 2017 vor der libyschen Küste, als sich vor ihren Augen eine Katastrophe ereignete und viele Menschen ihr Leben verloren. Einzelne Aufnahmen können das Geschehene nicht in seiner Komplexität wiedergeben, beschließt Hoffmann und sucht nach Handlungsspielräumen, die ihr die Kunst eröffnet.
Für ihre Arbeit „Atlas der Essenz“ hat sie diesen Ansatz titelgemäß auf eine Vielzahl von Themen und Perspektiven auf die Welt erweitert. Neben die eigenen Erfahrungen treten nun die Bilder vieler anderer. Bürgerkriege in Lybien, Syrien oder dem Yemen, politische Proteste und Ausschreitungen, wie jene nach der Tötung des Afroamerikaners George Floyd, zuletzt auch die Corona-Pandemie – monatelang hat die Künstlerin digitale Bildarchive und Suchmaschinen durchforstet, eben auch in den jeweiligen Landessprachen, sich durch soziale Netzwerke, durch Facebook, Instagram, Flickr usw. geklickt und Handyfotos direkt Betroffener gesichtet. Bilder über Bilder des Schreckens, sie muss abertausende gesehen haben. Für jedes Thema hat sie möglichst viele unterschiedliche Perspektiven ausgewählt und die Fotografien dann so, wie sie sie gefunden hat, übereinander geblendet, mehrere Hunderte sind es, teilweise sogar an die 1500 Stück.
Essence of Libya 2019, 110 x 165 cm, Pigmentdruck
Aus ATLAS OF THE ESSENCE, Part I War and Conflict, Foto: Lisa Hoffmann
Im Ergebnis wirken die Bilder durchaus imposant. Zumal die großen Bildkompositionen vermitteln zunächst einen ruhigen, geradezu kontemplativen Eindruck. Sie erinnern an Infrarotaufnahmen von Gemälden Alter Meister, die eine figurenreiche Szene zeigen, vielleicht auch eine Schlacht – schattenhaft, verschleiert und scheinbar sehr weit weg. Andere Arbeiten ziehen durch leuchtende, „poppige“ Farben die Aufmerksamkeit auf sich. Eindeutig sind jedoch auch sie nicht. Dann entdeckt man ein Detail, hat vielleicht auch den Titel gelesen, und schaut genauer hin: Was ist noch abgebildet, was erkennt man wieder? Was gehört zusammen? Und was hat man erwartet? Automatisch gleicht man die Arbeiten mit eigenen Bildern, Assoziationen und Erinnerungen ab.
Lockdown Week VI 2020, 50 x 75 cm, Pigmentdruck, sechsteilige Serie, Foto: Lisa Hoffmann
In den Griff bekommen lassen sich Hoffmanns Arbeiten auf diese Weise nicht. Wie sollten sie auch? Es sind zu viele Details und Aspekte, zu viele Geschichten, die sich Schicht für Schicht entziffern oder oft auch nur erahnen lassen. Zugleich entfalten all die unterschiedlichen Perspektiven in ihrer Summe etwas, das ein einzelnes Bild niemals vermitteln könnte, auch eine ganze Reihe nicht. Und das auch nicht leicht zu beschreiben ist. Man nimmt es am besten aus einigem Abstand wahr: den ästhetischen Querschnitt, das visuelle Grundrauschen, das aus den Werken spricht und ein subtiles Gefühl für die Atmosphäre vermittelt, die mit den Kriegen, Katastrophen und Schrecken auf dieser Welt verbunden ist. Dieses Gefühl wirkt lange nach.
Die Ausstellung „Atlas. Lisa Hoffmann“ ist bis zum 23. Mai 2021 in der Galerie ONspace in Kiel-Gaarden zu sehen.
Lisa Hoffmann hat an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel studiert. Für Ihre Arbeit "Atlas der Essenz" hat sie neben weiteren Künstlerinnen und
Künstlern den renommierten Fotopreis „gute aussichten – junge deutsche Fotografie“ 2019/20 erhalten
Ich danke herzlich Lisa Hoffmann für das Gespräch sowie Detlev Schlagheck für den gemeinsamen Galerierundgang und anregenden Austausch. Vielen Dank auch an André Bischoff.
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